
Aladin El-Mafaalani, deutscher Soziologe und Bestsellerautor („Das Integrationsparadox“, „Mythos Bildung“), im Gespräch über Integration und Bildung – und welche Paradoxien hinter den Begriffen stecken.
INTERVIEW: Sonja Quehenberger
INTEGRATION: Sie vertreten die Ansicht „Streitkultur ist die beste Leitkultur“. Können Sie das präzisieren? El-Mafaalani: Eine wesentliche Triebfeder des europäischen Fortschritts waren Konflikte. Ohne Konflikte sind Fortschritt und Innovation kaum denkbar. Allerdings können Konflikte auch zu sehr destruktiven Prozessen führen. Daher kommt es darauf an, in den Konflikten das positive Potenzial zunächst zu sehen und dann zu nutzen. Das meint Streitkultur: Kontroversen nicht ablehnen, unterdrücken oder möglichst schnell auflösen, sondern erkennen und als Entwicklung konstruktiv aufgreifen. Konstruktiv streiten – darum geht es eigentlich. Und das ist überhaupt keine triviale Forderung. Weil wir zum einen immer mehr und immer unterschiedlichere Menschen haben, die sich am Diskurs beteiligen können und wollen, zum anderen können alle rund um die Uhr über digitale Medien mitdiskutieren. Hinzu kommt, dass wir kaum noch Tabus haben und wir inhaltlich über alles reden können. In dreierlei Hinsicht haben wir also die Gesellschaft geöffnet – eigentlich gute Entwicklungen. Gleichzeitig überfordert uns genau das. Man muss also zusammenfassen: Unsere Gesellschaften sind überfordert, weil es noch keine etablierten Strukturen und Verfahren gibt, die die Teilhabe aller ermöglichen. Eine Orientierung wäre entsprechend günstig. Aber eine Leitkultur existiert nicht (mehr) per se, sie muss entwickelt und ausgehandelt werden. Selbst das geht nur über einen konstruktiven Streit. Wir brauchen eine Kultur des Streitens, die auch beinhaltet, dass der Streit nichts Schlechtes ist. Es kommt auf das Wie an – und am Wie müssen wir arbeiten.
INTEGRATION: Es gibt zahlreiche Definitionen von „Integration“. Wie lautet Ihre? El-Mafaalani: Im Kleinen: die Befähigung von Menschen zur Teilhabe an der Gesellschaft. Darin werden wir langsam besser. Im Großen: die Befähigung der Gesellschaft, die Teilhabe von mehr Menschen zu ermöglichen und zu strukturieren. Das wird immer anstrengender. Denn: Wenn mehr Menschen teilhaben sollen, müssen einige Menschen zum Teilen bereit sein. Das ist regelmäßig nicht gemütlich. Integration im Kleinen kann sich auf benachteiligte Gruppen (Frauen, Menschen mit Behinderung, LSBTIQ, Persons of Color usw.) oder auf einzelne Individuen beziehen. Integration im Großen meint die Gesellschaft insgesamt. Beides sind zwei Perspektiven auf einen Prozess: Integration.
INTEGRATION: Ihr Buch „Das Integrationsparadox“ liest sich wie eine sachliche, auf Fakten basierende Gegenwartsdiagnose. Sie verzichten auf explizite Belehrungen oder Appelle. Deshalb die Frage: Was muss sich in puncto Integration ändern? El-Mafaalani: Die Haltung und die Erwartungen. Integration führt nicht zu einer konfliktfreien Gesellschaft, sondern zu mehr Dynamik und mehr Konflikten. Was ich tue, ist ganz einfach: Ich vergleiche die aktuelle Situation nicht mit meiner Wunschvorstellung, also einem Luftschloss. Nein, ich vergleiche sie im Zeitverlauf, also: Wie war es früher, wie ist es heute? Und ich vergleiche die Situation hier mit der Situation woanders, also beispielsweise: Wie ist es in Deutschland im Vergleich zu Frankreich, England und Kanada? Gleichzeitig erkenne ich aber die hitzige Stimmung, die Unsicherheit und die Unzufriedenheit in ganz vielen Teilen der Bevölkerung. Damit vergleiche ich also auch die empirischen Befunde mit den öffentlichen Diskursen und dem Problembewusstsein. Diese konsequenten und transparenten Vergleichsmaßstäbe sind der zentrale Unterschied zwischen dem „Integrationsparadox“ und fast allen anderen Büchern über Integration. Es ist ein allgemein verständliches Buch auf dem aktuellen Stand der Forschung. Normativ ist höchstens, dass ich die liberale, demokratische Verfasstheit westlicher Gesellschaften – ich nenne sie kurz: offene Gesellschaften – voraussetze.
INTEGRATION: Im Buch argumentieren Sie pragmatisch und zuversichtlich. Trotzdem meinen einige, Sie würden Tatsachen ausblenden. Was könnte die Ursache für eine solche Bewertung sein? El-Mafaalani: Diese These vertrete ich ja seit Jahren. Im Jahr 2013 wurde diese These als pessimistisch angesehen. Heute meint man, sie wäre optimistisch. Die These ist dieselbe, ich bin derselbe. Aber die Gesellschaft hat sich gewandelt. Wenn alle pessimistisch werden, dann wirkt der Realist wie ein Optimist. 2010 oder 2012 war die Situation noch eine andere: Kein Trump, kein Brexit, in Deutschland gab es noch keine AfD, so vieles wirkte noch übersichtlicher. Und da kam jemand, der sagte, dass das Konfliktpotenzial weiter steigen wird. Das wirkte negativ. Heute sage ich, dass das Konfliktpotenzial nun sichtbar gestiegen ist, weil Integration zunehmend gelingt. Und viele haben das Gefühl, das kann nicht sein. Eine realistische Einschätzung kann in unterschiedlichen Situationen als zu positiv oder zu negativ interpretiert werden. Warum? Weil die Erwartungen anders sind. Deshalb ist es so wichtig, über realistische Erwartungen zu sprechen. Können wir erwarten, dass das Konfliktpotenzial auf absehbare Zeit sinkt? Ich würde sagen: unwahrscheinlich. Wollen einige Menschen weiterhin ihre einseitigen Vorstellungen von Integration bestätigt wissen und allen, die nicht so denken, vorwerfen, die Tatsachen auszublenden? Wahrscheinlich ja. Diejenigen, die mir das vorwerfen, haben das „Integrationsparadox“ entweder nicht gelesen oder nicht verstanden. Denn ich thematisiere darin durchaus Kriminalität, Extremismus, religiösen Fundamentalismus, Populismus und vieles mehr.
INTEGRATION: Sie geben Deutschlands Integrationspolitik die Schulnote 3+. Ich nehme an, dass Sie gelegentlich auch die Integrationspolitik in Österreich verfolgen. Wie würden Sie Österreichs Integrationspolitik im Vergleich zu jener Deutschlands beschreiben? Wo gibt es Unterschiede, wo Gemeinsamkeiten? El-Mafaalani: Ich möchte mich nicht detailliert in die österreichische Integrationspolitik einmischen. Aber nur so viel: Deutschland ist mit einer miserablen Integrationspolitik und einer nicht besonders ausgeprägten gesellschaftlichen Offenheit vor Jahrzehnten gestartet und hat dann die allermeisten Staaten überholt. Daher möchte ich nur sagen: Österreichs Schulnote wäre nicht so gut wie die Deutschlands.
INTEGRATION: In Ihrem neuen Buch „Mythos Bildung“ vertreten Sie die provokante These, dass Bildung kein einziges großes gesellschaftliches Problem löse. Viele Menschen meinen aber, Bildung sei „der Schlüssel für große Zukunftsfragen“. Wie können Sie sich das erklären? El-Mafaalani: Einerseits könnte es an dem theologischen Ursprung des Bildungsbegriffs liegen. Andererseits könnte es daran liegen, dass Bildung zu mehr Teilhabe führt. Und dann kommen wir zu dem bereits skizzierten Missverständnis: Die meisten Menschen verstehen nicht, dass ein Mehr an Teilhabe zu mehr Konfliktpotenzial führt. Bildung schafft Lebenschancen und ist deshalb ein zentrales Fundament für offene Gesellschaften. Sie ist also eine Grundlage, aber keine Problemlösung, kein Allheilmittel. Die offene Gesellschaft ist eine Arena, Bildung ist das Fundament, jetzt muss man spielen.
INTEGRATION: Wie lassen sich gesellschaftliche Probleme – zum Beispiel der Umgang mit globaler Migration – Ihrer Meinung nach lösen? El-Mafaalani: In etwa wie die Herausforderungen des Klimawandels: mit sehr vielen und sehr komplexen Maßnahmen, deutlich stärkerer internationaler Kooperation und Koordination. Entscheidend ist: Derzeit haben wir im Hinblick auf globale Migration und Klimawandel noch Handlungs- und Gestaltungsspielraum. In wenigen Jahrzehnten haben wir kaum noch vernünftige Handlungsoptionen. Insbesondere wenn in wenigen Jahrzehnten Klimaveränderungen die Migrationsursache Nummer eins werden.
INTEGRATION: Wie könnte man gewährleisten, dass die soziale Herkunft keine bzw. geringe Auswirkungen auf den Bildungserfolg hat? In anderen Ländern (Finnland, Schweden, Kanada, Japan) gelingt das ja teilweise. El-Mafaalani: Kinder sollten in der Schule alles erleben, erfahren und erlernen können, was die Welt zu bieten hat. Die ungleichen Bildungschancen entstehen nämlich überwiegend durch die ungleichen Möglichkeiten, die ein Kind in Familie, Umfeld und Milieu hat. Es geht um Gesundheit, Musik, Kunst, Sport, Handwerk, Botanik und so weiter. All das ist genauso wichtig wie der Unterricht. Wir müssen also aufhören, Schule nur als Ort zu begreifen, an dem Lehrkräfte Unterricht machen. Daneben muss eine zweite Säule gebaut werden. Multiprofessionelle Teams mit Kompetenzen aus den Bereichen soziale Arbeit, Psychologie, Medizin, Kunst und Kultur, Handwerk – um einige zu nennen. Diese stehen dann allen Kindern zur Verfügung. Bildungsbürgerliche Eltern profitieren davon, insbesondere weil sie derzeit das schlechte Gewissen plagt, weil beide Eltern berufstätig sind und die Kinder auf der Strecke bleiben. Lehrkräfte profitieren davon, weil sie sich auf den Unterricht konzentrieren können und nicht vieles machen müssen, wozu sie gar nicht ausgebildet sind und wofür sie auch gar keine Zeit haben. Arme Kinder profitieren davon, weil die Schule alles bereitstellt, was die Gesellschaft zu bieten hat, ganz unabhängig vom Elternhaus. Arme Kinder leiden an einer Armut an Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und der Erfahrung von Anerkennung, an einer Armut an Gelegenheiten, Kompetenzen und Begabungen weiterzuentwickeln, an einer Armut, Erfahrungen sammeln zu können, um Neigungen und Interessen überhaupt entwickeln zu können. Das hat mit der materiellen Armut zu tun, führt dann aber direkt und indirekt zu allen Bereichen, die mit Bildung zu tun haben.
INTEGRATION: Sowohl im „Integrationsparadox“ als auch in „Mythos Bildung“ räumen Sie mit Mythen auf, denen ein großer Teil der Gesellschaft erliegt. Wie kommt es dazu, dass wir solche Paradoxien als Tatsachen wahrnehmen? El-Mafaalani: Der große Soziologe Norbert Elias hat die Tätigkeit des Soziologen mit dem Bild eines Mythenjägers auf den Punkt gebracht. Die Dynamik und Komplexität der Gesellschaft macht Paradoxien wahrscheinlich. Ich glaube, deshalb ist die „öffentliche Soziologie“ heute wieder so notwendig. Es gibt einen immer größeren Bedarf an Deutungsangeboten, gerade weil sich bei immer mehr Menschen das Gefühl breitmacht, dass alte Vorstellungen und Gewissheiten immer weniger greifen. Wissenschaft sollte nicht mehr nur innerhalb des Wissenschaftssystems stattfinden.
Foto: Mirza Odabaşı