
Jürgen Czernohorszky, Wiener Stadtrat für Bildung, Integration, Jugend und Personal, im Gespräch mit Dino Schosche über die Integration in Coronazeiten.
INTERVIEW: DINO SCHOSCHE
INTEGRATION: Inwiefern hat die Coronakrise mit Integration zu tun? CZERNOHORSZKY: Die Corona-Krise ist eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft. Ganz besonders in Krisenzeiten ist es zentral, alle Mitglieder der Gesellschaft einzubeziehen. Hier spielt Integration eine ganz wichtige Rolle. Als Gesellschaft auf ein Ziel hinzuarbeiten, in diesem Fall die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, kann nur erfolgreich sein, wenn sich alle Menschen als Teil der Gesellschaft verstehen und von der Politik auch als Teil der Gesellschaft angesprochen werden.
INTEGRATION: Zu einem großen Teil sind es MigrantInnen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten. Sind sie die wahren HeldInnen des Alltags und was haben die MigrantInnen davon? CZERNOHORSZKY: Zugewanderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind ebenso wie Unternehmerinnen und Unternehmer sind in einer internationalen Metropole wie Wien in allen Branchen vertreten. Rund die Hälfte der Wienerinnen und Wiener im Haupterwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren hat eine ausländische Herkunft und ist damit in allen Bereichen systemrelevant. Die Krise hat uns noch mal deutlich vor Augen geführt, dass Menschen, die in Niedriglohn-Branchen mit oft wenig Prestige arbeiten, für das Funktionieren einer Gesellschaft enorm wichtig sind. Hier tut sich aber eine Kluft auf zwischen der Wichtigkeit einer Tätigkeit auf der einen Seite und der Anerkennung durch angemessene Bezahlung auf der anderen Seite. Eine der Folgen der Krise ist, dass diese Kluft stärker wahrgenommen wird, und ich bin der Ansicht, dass es nicht ausreicht, die Anerkennung nur auf einer symbolischen Ebene zu zeigen.
INTEGRATION: Vorausgesetzt, es kommt nach der Coronakrise eine starke Wirtschaftskrise – und davon gehen die meisten ExpertInnen aus -, werden aller Wahrscheinlichkeit nach wieder MigrantInnen die größten VerliererInnen dieser Krise sein. Mit welchen konkreten Maßnahmen könnte man das noch verhindern? CZERNOHORSZKY: Studien zeigen, dass insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit geringen Qualifikationen als Erste von wirtschaftlichen Krisen betroffen sind. Deshalb ist es mir sehr wichtig, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, egal ob aus dem Ausland zugewandert oder in Österreich geboren, bei ihrer Ausbildung bzw. Weiterbildung zu unterstützen und zu fördern. Sei es durch die Unterstützung bei der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen, Fachsprachen- und Basisbildungsangeboten, oder durch Brückenkurse in weiterführende Ausbildungen. Wichtig ist, dass rasch und umfassend unterstützt wird. Die Stadt Wien hat daher gezielte Fördermaßnahmen für Wiener Betriebe gesetzt und mit dem Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds, dem waff, eine österreichweit einzigartige Einrichtung für den Arbeitsmarkt in Wien, auf die sich die Wienerinnen und Wiener auch in Krisenzeiten verlassen können. Die Stadt nutzt alle Instrumente, um die Krisenfolgen für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt bestmöglich zu bewältigen.
INTEGRATION: Wie kann die gesamtgesellschaftliche Teilhabe trotz der Krise funktionieren? Und: Kann es „mehr Miteinander“ in Zeiten des „Ohne-Einanders“ überhaupt geben? CZERNOHORSZKY: Die Coronakrise zeigt uns einmal mehr, wie wichtig gesellschaftlicher Zusammenhalt und Solidarität sind. Und welche zentrale Rolle unser Sozialstaat einnimmt, um vor sozialen Risiken zu schützen. Mir ist es ein großes Anliegen, dass der Zusammenhalt, den wir alle gezeigt haben, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, auch gezeigt wird, wenn es darum geht, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu bewältigen. Ich habe großes Verständnis dafür, dass in den vergangenen Wochen in den Krisenstäben die epidemiologische Expertise einen zentralen Stellenwert eingenommen hat. Ich finde aber, dass es längst an der Zeit ist, auch andere Perspektiven stärker in die Krisenbewältigung miteinzubeziehen – vor allem jene von Kindern und Jugendlichen, denn sie leiden besonders in dieser Krise.
INTEGRATION: Distance Learning ist eine besondere Herausforderung für alle migrantischen Kinder und Jugendlichen. Nicht selten sind sie die DolmetscherInnen zu Hause. Wer hilft ihnen, wenn die Eltern es wegen der Sprachbarriere nicht können? CZERNOHORSZKY: Durch die mangelnde Ausstattung und auch die fehlenden Unterstützungsmöglichkeiten zu Hause haben manche Kinder aus Familien mit sozialen und ökonomischen Problemen den Anschluss verloren. Das wissen wir aus den Kontaktaufnahmen mit den Familien durch Pädagoginnen und Pädagogen sowie die Kinder- und Jugendhilfe. Deshalb war es mir einerseits sehr wichtig, dass es einen klaren Fahrplan für die weitere Öffnung der Schulen für alle SchülerInnen gibt. Andererseits haben wir in Wien mit Gratis-Laptops für Schülerinnen und Schüler und dem Ausbau der Gratis-Online-Lernhilfe rasch Maßnahmen gesetzt, um die Kinder und Jugendlichen zu unterstützen.
INTEGRATION: Bundeskanzler Sebastian Kurz wendet sich in seinen Ansprachen nur an die „Österreicherinnen und Österreicher“. Würden Sie das anders machen? CZERNOHORSZKY: Alle Menschen, die in Österreich leben, haben einen Beitrag dazu geleistet, dass die gesundheitliche Krise bisher gut bewältigt werden konnte. Insofern haben es sich auch alle verdient, angesprochen zu werden. Als Wiener Stadtrat wende ich mich an die Wienerinnen und Wiener. Und diese Anrede umfasst alle Menschen, die in Wien leben, egal welche Staatsbürgerschaft sie haben, egal ob sie seit Jahrzehnten oder erst seit einigen Jahren in Wien leben. Gemeinsam sind wir Wien und machen Wien zu Wien.
INTEGRATION: Laut einer Studie besinnen sich Menschen in Krisensituationen auf konservative Werte zurück. Welche Auswirkungen hat das in Zukunft auf die Integration? CZERNOHORSZKY: Ich teile diese Einschätzung nicht. Ich denke, dass uns in der Coronakrise wieder stärker bewusst wird, wie wichtig Solidarität, der Zusammenhalt als Gesellschaft und ein starker Sozialstaat sind. Und wie sehr uns die öffentliche Sphäre abgeht, wenn das Leben ins Private verlagert wird …
INTEGRATION: Was können wir in puncto Integration aus der Krise lernen? CZERNOHORSZKY: Dass eine Stadtgesellschaft am besten funktioniert, wenn alle zusammenhalten. Es macht uns nur schwächer, wenn wir uns auseinanderdividieren lassen. Diesen Spirit müssen wir beibehalten. Die Coronakrise ist noch nicht überwunden, sie hat Auswirkungen auf alle Bereiche: Arbeitsmarkt, Wirtschaft, Bildung, Armut. Unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ist es, dafür zu sorgen, dass in der Krise niemand zurückbleibt, egal ob in Österreich geboren oder aus dem Ausland zugewandert.
Foto: Michael Mazohl